Trauer an der Tankstelle: Verfassungsschutz über Mord nicht überrascht
Weil er keine Maske trug, verwehrte ein Tankstellen-Mitarbeiter Mario N. den Bierkauf. Der 49-Jährige, der nach SPIEGEL-Informationen für sich als »Softwareentwickler aus Leidenschaft« wirbt, kam zurück – und schoss dem 20-jährigen Studenten in den Kopf.
Nach seiner Festnahme begründete N. den Schuss mit Frust über die Pandemie und deren Regeln. Er habe sich in die Ecke gedrängt gefühlt und »keinen anderen Ausweg gesehen«, als ein Zeichen zu setzen, sagte Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann. Das Opfer schien ihm »verantwortlich für die Gesamtsituation, da es die Regeln durchgesetzt habe.«
Doch war das der wirkliche Grund? Der anerkannte Kriminalpsychologe Rudolf Egg dringt darauf, das Aggressionspotenzial des Täters genau zu untersuchen. »Man muss bei einer Tat immer unterscheiden zwischen dem unmittelbaren Anlass und dem eigentlichen Grund«, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. »Was da wirklich an diesem Tag und an diesem Abend war, worüber er sich noch geärgert hat«, sei noch völlig unklar. Möglicherweise habe der Verdächtige ganz andere Gründe als die Coronaauflage gehabt.
»Niemand, der auch nur halbwegs vernünftigen Verstandes ist, wird einen ihm völlig unbekannten jungen Mann einfach deshalb erschießen, weil er sagt: ›Du musst jetzt eine Maske aufsetzen!‹«, sagte der frühere Direktor der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder. »Das ist kriminalpsychologischer Nonsens.« Bei den Entstehungszusammenhängen der Tat müsse man »sehr, sehr aufpassen«, mahnte Egg. »Manchmal ist es nur zeitlich miteinander verknüpft, ohne wirklich ursächlich zu sein.« Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, könne nicht als die Ursache angesehen werden. »Da wäre im nächsten Moment was anderes der Fall gewesen.«
Inzwischen häufen sich die Hinweise, dass der Maskenstreit in der Tankstelle für Mario N. nicht bloß der letzte Tropfen war. Aus Ermittlerkreisen ist zu vernehmen, dass der Mann in den Theorien der Coronaleugner »bewandert« gewesen sei. Mehr Klarheit erhoffen sich die Strafverfolger vor allem von der Auswertung der sichergestellten elektronischen Geräte. Für eine weitere Radikalisierung spricht, dass N. nicht nur den einen Revolver, sondern noch weitere Waffen und Munition bei sich lagerte.
Wie er an die Waffen kam und woher sie stammen, ist noch unklar. »Die Waffen hat er nicht legal besessen«, sagte Oberstaatsanwalt Fuhrmann.
Mario N. war im sozialen Netzwerk Telegram aktiv – einem auch unter Verschwörungsideologen beliebten Kanal. N.s Profilspruch bei dem Messenger-Service: »Ignorance is the most dangerous type of stupidity« (»Unwissenheit ist die gefährlichste Form der Dummheit«).
Nach gemeinsamen Recherchen des SPIEGEL und des auf Verschwörungsideologien spezialisierten Thinktanks CeMAS fiel Mario N. bereits vor zwei Jahren auf einem Twitter-Profil mit nebulösen Gewaltfantasien auf. »Ich freue mich auf den nächsten Krieg. Ja, das mag sich jetzt destruktiv anhören, aber wir kommen aus dieser Spirale einfach nicht raus«, schrieb N. im September 2019 auf Twitter. In seinem letzten Tweet auf dem Profil einen Monat später dann: »Meine Muskeln sind gespannt, mein Geist geschärft. Gnade denen, welche diese Situation heraufbeschworen haben. Oder nein, Gnade wäre unrecht«.
Angesichts der steten Eskalation von Verschwörungsideologien in den vergangenen Wochen sei der kaltblütige Mord für ihn nicht überraschend, sagte der Leiter des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er und seine Kollegen hätten vor dem Aggressionspotenzial gewarnt: »Bedauerlich ist, dass es immer erst Tote geben muss, bevor die Gefahr ernst genommen wird«.
Laut Staatsanwaltschaft war der 49-jährige mutmaßliche Mörder noch nie bei der Polizei aufgefallen, auch nicht als Teilnehmer etwa einer Pandemieleugner-Demonstration.
Eine Anfrage des SPIEGEL zu den Vorwürfen gegen seinen Mandanten ließ der Rechtsanwalt von Mario N. bislang unbeantwortet.
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